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Flucht vor Tatsachen

Tag täglich werden wir mit Flüchtlingen konfrontiert. Viele von uns nur theoretisch über die Presse mit Bilder die sich weit weg von uns abspielen. Die Angst vor dem Flüchtlingsstrom und dessen Invasion in unser Leben ist trotzdem allgegenwärtig. Einmal mehr ein guter Grund sich mit der Thematik Flucht auseinanderzusetzen.
Die Menschen, welche sich auf den Weg machen in die Ungewissheit und widrige Umstände auf sich nehmen, werden einerseits vom Elend und der Aussichtslosigkeit getrieben und andererseits von der Hoffnung gezogen. Ein Elend geprägt von Krieg, vom Überlebenskampf, von Ohnmacht und dem Wissen, dass es in den letzten Jahren nie besser, sondern immer schlechter wurde. Die Diskussion ob es sich wirklich um politisch Verfolgte, Kriegsflüchtlinge oder Wirtschaftsflüchtlinge handelt ist eigentlich belanglos. Denn auch bei den Wirtschaftsflüchtlingen geht es nicht um „ein besseres Leben“, sondern schlicht ums Überleben. Sie fliehen alle vor den nackten Tatsachen ihres Alltages, der Ohnmacht, in die einzige Möglichkeit die sie heute für sich sehen, die auch einen Zukunft schaffen könnte, wo auch immer.

Sie fliehen vor den Tatsachen vor denen wir, konfrontiert mit unserer eigenen Angst, die Augen verschliessen. Und wenn wir diese Tatsachen anschauen, dann immer mit dem Willen dort etwas ändern zu wollen, ohne bei uns etwas ändern zu müssen. Und das heisst klar ausgedrückt, wir selber fliehen vor der Tatsache, dass wir dort nur was ändern können, wenn wir hier etwas ändern, und zwar gewaltig.
Doch warum können wir diesen Tatsachen nicht in die Augen schauen? Warum klammern wir uns immer noch an Bilder von Vorurteilen geprägt, von pauschalierten Aussagen verschleiert und von Überheblichkeit (Besserwisserei) getragen? Welchem Vorwurf schauen wir in die Augen, wenn wir die nackten Tatsachen anerkennen? Was ist ihre Botschaft an uns? Ist es die Erkenntnis, dass unser vermeidlich fortschrittliches Wohlstandssystem wie eine Luftblase zerplatzt? Ist es das Eingeständnis, dass wir uns vielleicht die letzten 150 bis 600 oder sogar 2000 Jahre geirrt haben? Wann haben wir aufgehört in einer Gemeinschaft zu leben, wo sich alle Menschen auf Augenhöhe begegnen? Seit wann haben wir unsere natürliche Veranlagung zur Kooperation aufgegeben und uns einreden lassen, dass wir alle Konkurrenten sind und der stärkere über den Schwachen siegen und herrschen darf? Wann haben wir aufgehört uns als Gast auf diesem Planeten zu fühlen und dafür dankbar zu sein?
Ja, solchen Tatsachen in die Augen zu blicken ist schwer. Es stellt unser aktuelles Leben komplett in Frage. Es stellt unsere ganze Ausrichtung für die Zukunft in Frage. Die Basis unseres Lebens und ein Grossteil der gelebten Werte fliegen weg wie die Magma eines ausbrechenden Vulkans. Unsere Träume, sollten wir noch welche haben, liegen in Schutt und Asche vor unseren Füssen und müssen neu geträumt werden.
Müssen sie das wirklich? Ich denke nicht. Denn das wovon wir wirklich träumen, das wonach wir uns aus tiefstem Herzen wirklich sehnen, können wir behalten. Was wegfliegt ist die Vorstellung, wie dies umzusetzen, zu erreichen ist. Denn das ist geprägt von dem uns bekannten System in den wir leben und an dessen Rahmenbedingungen, so wie wir sie heute kennen. 

Es braucht viel Mut neu zu träumen, radikal zu träumen. Den Wunsch und Willen zu entwickeln, von der Wurzel auf etwas zu ändern. Wir haben gelernt in Sicherheit zu leben. Diese loszulassen ist ein schwerer Schritt. Die Menschen, die zu uns flüchten, kennen diese Sicherheiten nicht. Sie haben sie, wenn überhaupt, nur wage erlebt. Ihnen sind sie schon weggebomt worden. Sie haben keine andere Wahl mehr. Und sie tun uns einen grossen Dienst, denn sie zwingen uns die Augen zu öffnen. Zu erkenne, dass auch wir eigentlich keine andere Wahl mehr haben, wenn wir überleben wollen. Sie zwingen uns, an die Wurzel der Tatsachen zu gehen. Denn eine einfache Korrektur dessen, was wir die letzen 150 bis 2000 Jahre angerichtet haben, ist nicht mehr möglich. Wir dürfen neu anfangen und umkehren zu dem Punkt, an dem wir uns unserer wahren Rolle auf diesem Planten noch bewusst waren. Wie weit das ist, weiss ich nicht. Es ist auch nicht wichtig. Wir werden es in keinem Buch nachlesen können, denn alle unsere Bücher wurden danach geschrieben. Doch es gibt noch Völker die das Wissen bewahrt haben. Nun gilt es nur noch den Mut aufzubringen uns einzugestehen, dass diese, in unseren Augen Primitiven, hundert mal mehr begriffen haben vom Leben als wir selber und uns zu ihnen zu setzen, um von ihnen zu lernen. Sie werden uns nicht wegschicken und sich uns gegenüber verschliessen. Ihre Hilfe ist uns gewiss!

Also gilt es die eigenen Aussichtslosigkeit, so weiterzumachen zu können, anzuerkennen und uns von ihr treiben zu lassen. Gleichzeitig soll uns die Hoffnung, doch noch auf diesem Planeten in weiteren Generationen in Frieden leben (und nicht nur überleben) zu können, als Leitstern dienen.

Sonntag, 23. August 2015

Sieglinde Lorz